Samstag, 13. November 2010

Tom und die Vögel

Es gehört nicht viel dazu, Jugendliche in eine depressive Grundstimmung
zu versetzen!
(Lisa Simpson)

"Ich beobachte die Vögel und ich überlege wie ich sie alle töten kann"
Hätte sie ihm ins Gesicht gesehen, als sie das sagte, hätte sie vielleicht gedacht, daß er wie einer aussieht, der überraschend Glassplitter zwischen seinen Zähnen bemerkt hatte.

Er war recht perplex, was auch damit zusammenhing, dass er nicht einschätzen konnte, was sie damit gemeint hatte.

Meinte sie so etwas wie: "Geh doch nach Hause und ruf nach deiner Mami" oder versuchte sie nur ein wenig Verwirrung zu stiften?

Im Grunde hatte sie ihm irgendwie ein wenig Leid getan, dass war der eigentliche Grund, warum er sie überhaupt angesprochen hatte.
Sie tat ihm Leid, wie sie da traurig und zusammengekauert auf der Treppe saß und in die Dunkelheit des angrenzenden Parklatzes starrte.
Sie wirkte wie ein verlassenens Kind, oder ein geprügelter Hund.
Später sollte er sich darüber bewusst werden, daß Frauen ihres Schlages und in dieser Szene diesen Eindruck jahrelang mühevoll einübten.
Es ist in gewisser Weise eine Mode, so ähnlich wie diese dämlichen achtziger Jahre Nieten Gürtel, die hier auch jeder zu tragen schien.
Aber an diesem Abend wusste Tom das noch nicht.

Karsten, sein bester Kumpel, hatte ihn hierher gelotzt.
Vermutlich vor allem deswegen, weil hier heute Abend die einzigste Party in der Gegend stieg: "Industrial and Darkwave" so hatte es auf dem Flyer gestanden.

Nun, auf der Provinz durfte man nicht wählerisch sein!
Man konnte schon froh sein, wenn es überhaupt irgendwo eine Veranstaltung für Jüngere gab.
So ist es für diesen Abend also das "Einhaus" geworden, ein heruntergekommener Schuppen, eine halbe Fahrstunde von Toms Heimatort entfernt.

Karsten ging es hauptsächlich darum Frauen kennenzulernen, auch wenn er das so nie zugeben würde.
Eigentlich ginge es ihm um die Musik, behauptete er immer.
Aber an diesem Abend ging es ihm nur darum rauszukommen und vermutlich noch um Alkohol, worum es meistens ging wenn die Frauen sich nicht für sie intressierten und die Musik nicht ihrem Geschmack entsprach, also eigentlich immer.

Sie beide waren gerade 18 geworden und hatten von Frauen im Prinzip kaum Ahnung.
In diesem Alter sprach man auf Partys, auf gut Glück, einfach alles an was lange Haare hatte und geschminkt war.
Explizit an diesem Abend war das allerdings eine eher dumme Taktik!
Geschminkt waren in dieser Szene fast alle!
Karsten wuste das, er war wohl schon öfter im "Einhaus" gewesen, er stand nicht drauf, aber wenn sonst nichts ging kam er trotzdem.

"Industrial", hatte Karsten zu Tom gesagt, "ist irgendwie ja auch nicht allzuweit von Techno entfernt! Es ist auch elektronisch".

Karsten hatte das gesagt um Tom zum mitkommen zu überreden, denn von "Industrial" hatte der als Kind der Provinz noch nie was gehört.

"Industrial", dabei hätte er eher an ein Verfahren für das Verschrotten von alten Autos gedacht, oder etwas in die Richtung.
Als sie dann vorm "Einhaus" hielten und vorm Auto noch eine Zigarette geraucht und ein paar Jägermeister getrunken hatten um sich in Stimmung zu bringen, wurde ihm erst klar, wie weit "Industrial" wirklich von "Techno" entfernt war und wie nahe es doch seiner eigenen Assoziation des Wortbegriffes kam.

"Industrial" also?

Tom überlief ein kalter Schauer und die Nackenhaare stellten sich klamm, als er da so mit Karsten auf dem Parkplatz stand und den Soundfetzen lauschte, die von dem Gebäude herüberwabberten, das sich hinter die traurigen Bäume duckte.
Ach was heißt wabern, sie hämmerten atonal und frei von jedem Rythmus durch die Nacht.
Dazu markige Schreie im Hochtonbereich, so als hätte man vergessen beim verschrotten der imagiierten Autos die Fahrer aussteigen zu lassen, bevor die Dampfpresse dass alte Blech zermalmte.
"Industrial" dachte er sich da ganz spontan, ist auf jeden Fall etwas mit dem man Kleintiere aus der Garage jagen kann.
Diese ganze achtziger Szene, mit ihrem Gehabe und den schwarzen Klamotten, war zu diesem Zeitpunkt, im Sommer 1993, eigentlich schon mehr als tot.
Aber an diesem Ort, dem "Einhaus" in Aßlar, schien sie noch gehörig zu zucken.
Wie ihm am nächsten Morgen klarwerden sollte, stank sie allerdings schon gehörig. Zumindest seinen Klamotten hing das "Einhaus" noch lange nach.
"Industrial", das war an sich kein Ding der achtziger, in den achtzigern hörte man Neoromantik oder dergleichen.
Niemand, der klar bei Verstand war, würde "Industrial" als romantisch bezeichnen und wenn, dann war es jemand, der auch dem zertreten von Goldhamstern etwas romatisches abgewinnen konnte.

Aber über die Feinheiten dieser Richtung wusste Tom zu diesem Zeitpunkt wenig und die klasischen Besucher des "Einhauses" die, wie auf jeder Party üblich, überreichlich den Parkplatz bevölkerten, sorgten auch nicht für mehr Klarheit.
Schwarzgekleidete, geschminkte Gestalten mit Nietengürteln und dem zwanghaften Versuch irgendwie böse zu wirken, was in den meisten Fällen nicht mehr als eine lustige Maskerade war, die bestenfalls ein wenig "gay" wirkte, zumindest auf ihn.
Erst fast 15 Jahre später sollte Tom mit "cinema bizarre" und "Tokyo Hotel" ein Styling entdecken, dass er noch schwuler fand, aber das ist eine andere Geschichte.
Er war kein Eingeweihter, niemand der überhaupt öfter solchen Typen gesehen hatte.
Er hatte sich immer für recht "abgefahren" gehalten, weil er in seinem Zimmer Maday Plakate hängen hatte und abends laut "Culture-Beat" hörte, die in diesem Sommer 1993 einen großen Hit hatten.

Aber so ist das immer, wenn man auf der Provinz wohnt und vom Rest der Welt nicht allzuviel mitbekommt.
In seinem Dorf war man schon mit "Culture-Beat" ein abgefahrener Typ.
Aber wenn man dann irgendwann begriffen hatt, das der Horizont nicht das Ende der Welt ist, wenn man also sieht, dass die Welt einen Steinwurf weiter auch noch existiert und sich kein riesiger Abgrund auftut, dann merkt man schnell, dass man doch eher ein recht gewöhnlicher junger Mensch ist.

Wie unglaublich normal und gewöhnlich, das ist ihm an keinem Abend seiner jungen Jahre so deutlich vor Augen geführt worden, wie an diesem, als er unvermittelt mit dieser Prozesion abgemagerter junger Menschen konfrontiert wurde, die sich als "lebende Leichen" verkleidet, dem Sound von zusammenschlagendem Metall hingaben.
Das "Einhaus" war für ihn der erste große Kulturschock!

Alles in ihm sträubte sich, in dieses Gebäude zu gehen.
Die Musik war ihm schon auf dem Parkplatz zu laut und da sie auf ihn auch rein akkustisch den Eindruck machte, als könne man mit ihr Gebäude von beachtlichen Dimensionen abreißen, war ihm das schäbige Gemäuer gleich doppelt suspekt.

Vermutlich hatte er sie auch nur aus diesem Grund angesprochen, als er sie auf dem Hinweg auf der Treppe kauern sah, um einen Grund zu haben, draußen zu bleiben.
Eine, mit der man sich unterhalten konnte, wenn sich Karsten schon unbedingt ins Gewühl stürtzen wollte.
Aber nach diesem Satz mit den Vögeln.........
"Mein Gott alles ist besser als aleine auf dem Parkplatz, mit Leuten wie diesen" dachte Tom panisch.
Vieleicht war der Satz "was machst du hier?" auch nicht unbedingt inteligent?
Großer Gott es war eine Industrial Party, klar das sie nicht wegen der Musik oder der netten Geselschaft da war.

Nein sie war am morden von Vögeln intresiert, ja dann..........andere angeln?
Auf der anderen Seite............Vögel?

Keine ihm bekannte Art von Vogel würde sich auch nur in die Nähe dieser Lärmkulisse bewegen wollen, also von was für gottverdammten Vögeln redete sie?

Karsten riss ihn aus diesen Gedanken heraus mit einem Saloppen:
"Kommste jezt Alter verdammt".

Jenny (so hieß sie), war jedes Wochenende hier und saß jedes Wochenende auf dieser Treppe, soviel wuste Karsten auf Nachfrage.
Aber er empfahl Tom auch sowieso, nicht zuviel mit den Frauen hier zu reden, er hätte es selber schon versucht.
Aber die würden dann den ganzen Abend von ihren Selbstmordphantasien quatschen, dann würden sie dir vorwerfen das du ihnen nur zuhörst weil du sie flachlegen wilst und danach würden sie austicken, wenn du "nein" sagst.
"Selbstmordphantasien" schoss es ihm durch den Kopf, ja bei der Musik kein Wunder. Wie sich erweisen sollte war die Musik aber kein Problem mehr nachdem er den Laden betreten hatte.

Die Geräuschkulisse hatte, dank moderner Verstärkertechnik, eine solche Lautstärke, dass sie die Grenzen der Wahrnehmeung deutlich überschritt.
Wahrnehmung war sowieso etwas das man links neben dem Eingang abstellen konte, es war nutzlos in einem Schuppen wie diesem.
Es war stockdunkel und selbst wenn es heller gewesen wäre, hätte man nichts sehen können, wegen der verqualmten Luft, die gleichzeitig die Möglichkeit zu riechen äußerst einengte.
Lezteres war aber vermutlich sogar eher gut so!
Der verklebte Boden ließ eine grobe Vorstellung davon, welch infernalische Gerüche noch unter der Dominanz des Zigarettenrauchs lauern könnten.
Diese allgemeine Grundstimmung wurde nur immer wieder durch das unregelmäßige Flackern eines Stroboskoplichtes unterbrochen, dessen Frequenz übelkeiteregend war. Wenn einem nicht die Musik schon sauer aufstieß, das Strobo hätte einem den Rest gegeben, wer muss sich da noch bleich schminken?
Er folgte Karsten, der sich sicher durch den Andrang kämpfte, weiter in das höhlenhafte Ambiente, richtung DJ.
Unwillkührlich kam ihm in den Sinn, was nun wäre, wenn er sich weit genug in den Schuppen hereingetraut hätte und der DJ würde den "Blutrausch" ausrufen?
Alle Gäste würden sich als Zombies entpuppen und ihn und Karsten weglutschen wie Eis am Stiel?
Es war natürlich keine realistische Perspektive, aber je länger er hier war desto irrer wurden seine Gedanken.

So irre wie der Typ den er einen halben Meter weiter, auf der Lehne seines Stuhles sitzen sehen konnte.
Der hatte ein armlanges Bowie Messer in der Hand, mit dem er wie im Rausch ein Stück Brot zerlegte, dass sich auf dem Tisch unter ihm befand.
Er tat es mit einer Inbrunst, das man denken könnte er würde dieses Brot aufrichtig hassen.
"Toll" dachte Tom sich, "ein Typ mit einem Metzgermesser, mitten in der Menschenmenge."
Was wenn das Brot in kleinen Krümeln zu seinen Füßen lag?
Würde er dann bei den Menschen weitermachen, seinem Blick nach zu schließen war das keine abwegige Vorstellung.
Er wollte Karsten noch warnen sofort rauszurennen, aber der war bereits im Gewühl verschwunden.
Also muste er notgedrungen selber etwas tun.
"Am besten" dachte er sich "ich sage dem Sicherheitsdienst bescheid"
Bloß wer könnte das sein?
Im Normalfall sind die Sicherheitsleute die Jungs in schwarz.
Allerdings kann man in einer Darkwavedisse trotz dieses Wissens ordentlich aufgeschmissen sein!
So auch in diesem Fall und da es um einiges zu laut war, konnte er das Fragen auch eher vergessen.

Also tat er das logischste, er rannte raus so schnell das eben ging.
Leider nicht sehr schnell.
Der Boden klebte dermaßen, das man glauben konnte, die Betreiber würden das was beim ausschenken an Bier vom Tresen läuft nutzen, um den Laden am nächsten Morgen damitt auszuwischen.
Aber schon einen halbe Stunde später stand er wieder draußen bei Jenny auf der Treppe.
"Hör mal" fragte er sie, "Ich suche den Türsteher weißt du wer das ist?"
Sie war mittlerweile zu einer Art wiegender Sitzhaltung übergegangen, blickte ihn aber völlig klar an und sagte: "Klar, der ist drin, kanst ihn nicht verfehlen, so ein großer Typ mit einem Bowie Messer"

Das war zuviel!

Erschöpft sezte er sich auf die Treppe neben Jenny.

"Eigentlich ist das alles hier nicht so direkt mein Fall" sagte er so vor sich hin.
"Nee so siehste eigentlich auch nicht aus" erwiederte sie, "vieleicht gehst du doch besser heim und rufst nach deiner Mami?"

Es war kein sehr guter Auftakt für ein Gespräch, das hätte ihm von Anfang an klar sein müssen, aber für diesen Moment war es ihm lieber als gar keiner.
So blieb er bei Jenny sitzen und ließ sich von ihrem Leben und ihren Problemen erzählen.
Dass sie gerne in einem echten Sarg schlafen würde, aber ihre Eltern wollen ihr einfach keinen kaufen.
Das sie mit ca. 14 gemerkt hatte, dass sie irgendwie anders sei, so ganz anders als die ganze Spießergeselschaft und das sie diese Erkentniss sehr inspirierend gefunden hätte, weil sie ab da wusste etwas ganz besonderes zu sein.
Sie erzählte lange von ihrem Glauben außerwählt zu sein und ihrer intensiven Selbstmordphantasien zu denen sie durch die "Ignoranz ihrer Mitmenschen" genötigt wurde.
Das Gespräch wurde auf eine morbide Art sogar noch "romantisch" als zwei Betrunkene auf dem Parkplatz begannen, in bester Wolfsmanier, den Mond anzuheulen!
"Die intonieren ein sehr bekanntes Lied" wuste Jenny, "gar nicht schlecht" fand sie, "sehr nah am Orginal".
In diesem Lied würde es um irgendwas mit Dunkelheit und der Vernichtung allen bekannten Lebens gehen.
"Warum bist du so Jenny" wollte Tom wissen, "du bist doch eigentlich ein sehr nettes, hübsches Mädchen" fuhr er fort.
Mags der Himmel wissen was ihn zu dieser Aussage trieb, sie tat ihm irgendwie immer noch recht leid und einen gemeinsamme Nacht auf dem Parkplatz des Einhaus kam ihm so kameradschaftlich vor wie ein Beisammensein im Schützengraben.
Selbst die Soundkulisse erinnerte deutlich an Granatbeschuss.

" Du sagst das eh nur weil du mich flachlegen wilst" bemerkte Jenny.
"Äh nein ehrlich nicht Jenny...ich" weiter kam er nicht!

Aprupt stand Jenny auf und spuckte wütend auf den Boden.
"Nicht?" schrie sie, "also du bist ja wohl mal voll krank du Freak, lass mich bloß in Ruhe"!
Dann verschwand sie in der Dunkelheit und ließ Tom auf der Treppe sitzen.
Eine halbe Stunde später fand ihn Karsten.
"Ach hier bist du, was zum Teufel machst du hier" fragte er.
"Ich beobachte die Vögel.........." erwiederte Tom.

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